Er kann sich nicht erinnern, wann ihm zum ersten Mal bewusst wurde, welche Geschichte seine Familie prägt. Hervé Cachelin weiß aber noch, dass er 1965 als Achtjähriger dabei war, als in der Westminster Abbey eine Büste seines Ururgroßvaters William Booth enthüllt wurde – zum hundertjährigen Gründungsjubiläum der Heilsarmee.
Hervé Cachelin ist nicht der erste Nachfahre, der für die internationale Hilfsorganisation und evangelische Freikirche in Deutschland aktiv ist. So war seine Großtante Mary Booth, eine Enkelin von William Booth, von 1925 bis 1929 für die Arbeit der Heilsarmee in Deutschland verantwortlich. Und als seine Mutter Genevieve Cachelin, Urenkelin des Heilsarmee-Gründers, mit ihrem Mann zwischen 1979 und 1984 die Heilsarmee in Deutschland leitete, war Hervé Cachelin bereits erwachsen und besuchte die Offiziersschule der Organisation. Nach Stationen in der Schweiz, in Australien und England lebt er seit 2017 in Köln und arbeitet als Verwaltungschef der Heilsarmee in Deutschland, Litauen und Polen.
Fünf Fragen an Hervé Cachelin
Unterscheidet sich die Arbeit in Deutschland von der vorheriger Stationen? Von den Ländern, in denen meine Frau und ich bislang tätig waren, ist die Heilsarmee in Deutschland in der Bevölkerung am wenigsten bekannt. Dies hat auch damit zu tun, dass die Heilsarmee hier durch das Dritte Reich und später den Eisernen Vorhang stark eingeschränkt wurde. In anderen Ländern war die Heilsarmee durchgängig in den letzten 150 Jahren viel an vorderster Front anzutreffen, wo sie Menschen mit Essen und dem Nötigsten versorgte, Seelsorge anbot und bei der Suche von Vermissten half. In Australien beispielswiese kennt jeder die Heilsarmee. Sie ist dort oft bei Katastrophen wie zum Beispiel Buschbränden gleichzeitig mit Feuerwehr, Polizei und Rettungsdiensten im Einsatz.
Oberstleutnant Hervé Cachelin, Chefsekretär der Heilsarmee in Deutschland, Litauen und Polen, ist Stellvertretender Leiter und Verwaltungsdirektor der Heilsarmee.
Sie sind quasi in der Heilsarmee aufgewachsen. Wie hat sich das bemerkbar gemacht? Mit meinen Eltern als Heilsarmeeoffizieren war ich selbst viel unterwegs: geboren in Brüssel, Primarschule in Paris, dann bis zum Studienabschluss in Bern. Ich empfand das, was andere vielleicht als Entwurzelung beurteilen würden, als Abenteuer und spannende Herausforderung – auch nach einem Dutzend Umzüge, die mich in vier weitere Länder geführt haben. Außerhalb der Schule war ich viel in der Heilsarmee-Gemeinde aktiv, beim Blechblasmusikunterricht, als Pfadfinder und im kirchlichen Unterricht. Auch habe ich zusammengerechnet über zwei Jahre meines Lebens in Ferienfreizeiten verbracht: Zum einen, weil meine Eltern mich oft dorthin schickten – vermutlich brauchten auch sie einmal Erholung, ich war ein lebhaftes und rasch gelangweiltes Kind. Zum anderen, weil ich über zehn Jahre mit Kindern gearbeitet und entsprechende Ferienfreizeiten betreut habe. Ich habe mich gerne an allen Heilsarmee-Aktivitäten beteiligt und nie den Wunsch verspürt, etwas anders zu machen. Das „Helfen ohne Ansehen der Person“ begleitet mich von jeher. Ich studierte Pädagogik und machte weder im Studium noch in der Rekrutenschule der Schweizer Armee (ich war dort Trompeter) ein Geheimnis daraus, dass ich gläubig bin und zur Heilsarmee gehöre. Ich habe auch nie erlebt, dass man mich deswegen ausgegrenzt oder angefeindet hat.
Was hat Sie dazu bewogen, Heilsarmee-Offizier zu werden, also vollamtlich in der Heilsarmee zu arbeiten? Das war ziemlich unspektakulär. Was mir meine Eltern vorgelebt hatten, war authentisch. Ich konnte mich mit dem Heilsarmeegrundsatz „Glauben und Handeln“ identifizieren. Bei einer Ordination von Offizieren in Bern war ich dabei und bin ganz spontan dem Aufruf gefolgt, nach vorne zu treten, um meine Bereitschaft kundzutun, diesen Weg zu gehen. Für mich war dies das Aufstoßen einer Tür, die nicht verriegelt war. So habe ich auch die weiteren Vorbereitungen für diesen Dienst erlebt.
Ist die Heilsarmee auch für Ihre Geschwister wichtig? Schließlich folgt nicht jedes Kind dem Vorbild der Eltern oder der Familie. Von uns vier Geschwistern sind tatsächlich drei Heilsarmeeoffiziere geworden. Eine Schwester hat mit ihrem Mann vorwiegend Heilsarmeekorps (Gemeinden) geleitet. Die andere leitet mit ihrem Mann die Arbeit der Heilsarmee in Italien und Griechenland. Mein älterer Bruder ist Mediziner – und jeden Sonntag in der Gemeinde anzutreffen, wo er oft das Singen am Klavier begleitet. Sie sehen, die Äpfel sind nicht weit vom Stamm gefallen.
Welche Ziele haben Sie für Ihre Arbeit in Deutschland? Zu Beginn haben meine Frau und ich innerhalb weniger Monate alle Gemeinden und Einrichtungen in Deutschland, Litauen und Polen besucht. Dies ist wichtig, weil Leitung nur funktionieren kann, wo Vertrauen aufgebaut wird. Die Heilsarmee ist gut aufgestellt, um rasch, unkompliziert und kostengünstig Hilfe anbieten zu können, wo diese benötigt wird. Als zum Beispiel der furchtbare Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt passierte, waren wir innerhalb kürzester Zeit vor Ort. Oder auch bei der Elbeflut 2013 oder als 2015 innerhalb weniger Wochen eine große Anzahl von Flüchtlingen in Deutschland aufgenommen wurde. Eine unserer Stärken ist es, Menschen jeder Herkunft auf Augenhöhe zu begegnen. Wir bieten Hilfe an, die nachhaltig wirkt, weil sie Hilfe zur Selbsthilfe ist. Wir erleben oft, dass sich auch Menschen, die mit dem Glauben wenig anfangen können, ernst genommen und angenommen fühlen. Natürlich arbeiten wir auch daran, dass die Heilsarmee als Hilfsorganisation und evangelische Freikirche stärker in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Eines unserer ersten Ziele war es, einflussreiche Personen aus der Politik, Wirtschaft und dem öffentlichen Leben zu treffen, um gemeinsam zu erkunden, wie wir uns gegenseitig unterstützen können. Dieses Ziel kann ich noch nicht als erreicht betrachten. Ich setze mich weiter dafür ein, auch in dieser Hinsicht Fortschritte zu erzielen – denn genau dies gelang meinem Ururgroßvater William Booth auf ganz besondere Weise. Es gab bestimmt viele Menschen, die seine Arbeit und Methoden belächelten, aber er hat weltweit ein Erbe hinterlassen, das die Lebensschicksale unzähliger Menschen zum Guten gewendet hat.