Thema Antisemitismus schon im Studium verankern: Prof. Dr. Julia Bernstein und Prof. Dr. Stefan Müller fordern Anpassung der Lehrkräfteausbildung und schulischen Curricula
„Du Jude“ ist auf deutschen Pausenhöfen ein vielgenutztes Schimpfwort. Der zunehmende Antisemitismus in der Gesellschaft macht an den Schultoren nicht Halt. Bedrohung, Stigmatisierung und Gewalt gehören zum Alltag jüdischer Schüler. Um wirksam gegensteuern zu können, muss das Erkennen von Antisemitismen und der geschulte Umgang damit Bestandteil einer sozialwissenschaftlichen Bildung für Lehrer sein. Dies fordern die Soziologin Prof. Dr. Julia Bernstein und der Soziologe Prof. Dr. Stefan Müller von der Frankfurt University of Applied Sciences (Frankfurt UAS). Bernstein und Müller weisen darauf hin, dass in Deutschland die Kompetenzen, um gegen Antisemitismus im Unterricht und in der Schule vorzugehen, bislang nicht verbindlich in der Lehramtsausbildung vorgesehen sind.
„Schule ist eine Institution, die zu Mündigkeit, Gleichwertigkeit und Zivilcourage erziehen soll, ein Ort der Sozialisation, der auch darüber entscheidet, welche sozialen Ausschlussmechanismen, welche Diskriminierungen das gesellschaftliche Zusammenleben prägen – oder nicht prägen. Vor allem muss die Schule ein Ort sein, an dem Opfer jeglicher Gewalt mit Schutz und Unterstützung rechnen dürfen“, so Stefan Müller, Professor für Soziale Probleme, Bildung und Gesellschaft an der Frankfurt UAS. „In den Lehrerzimmern herrscht häufig Unwissen über Antisemitismus unter Schülerinnen und Schülern vor – oder das Thema wird bagatellisiert, manchmal sogar toleriert. Für das Thema sensibilisierte Lehrkräfte fühlen sich hingegen oft überfordert“, sagt Julia Bernstein, die am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt UAS seit längerem zum Thema Antisemitismus in der Schule forscht.1 Beide machen deutlich: Antisemitismus als fächerübergreifende Thematik muss schon im Lehramtsstudium verankert werden. Welche antisemitischen Weltbilder kursieren, wie können sie dekonstruiert werden? Wo liegen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum Rassismus? Wie können Lehrer und Lehrerinnen in bestimmten Situationen intervenieren und aufklären? Sie benötigen entsprechendes Wissen, um überzeugend gegen Judenhass vorzugehen.2
„Um Antisemitismus in der Schule begegnen zu können, muss man erst das Phänomen, seine Mechanismen und seine identitätsstiftende Rolle im Allgemeinen verstehen. Nicht nur theoretisch, sondern als Gewalterfahrung der Betroffenen“, erläutert Julia Bernstein. „Es ist notwendig, von einer erwartbaren Distanzierung gegenüber dem Antisemitismus zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung über die Funktionen und Mechanismen von Antisemitismen und Vorurteilen überzugehen“, betont Stefan Müller. Antisemitische Ressentiments entspringen jahrhundertelang weitergegebenen Projektionen auf „die Juden“, die nichts zu tun haben mit den realen oder vermeintlichen Eigenschaften, Vorstellungen und Überzeugungen von Jüdinnen und Juden. Bildungsinstitutionen haben die Möglichkeit, diese Vorurteile zu verändern.
Empirisch ist laut Bernstein und Müller festzustellen, dass sich die Grenze des öffentlich antisemitisch Sagbaren in den letzten Jahren verschoben hat. „Befeuert durch die sozialen Medien hat vor allem der Antisemitismus unter dem Deckmantel sogenannter Israelkritik zugenommen, der so zu einem ,erlaubten Ressentiment‘ wird“, so Bernstein. Ihrer Forschung zufolge ist der israelbezogene Antisemitismus die aktuell dominierende Erscheinungsform, von der die Betroffenen am häufigsten berichten und die am häufigsten nicht als antisemitisch erkannt wird. Dies steht laut Bernstein „einer angemessenen Reaktion im Weg“.
„Hilflose Floskeln und moralische Empörung reichen für die Bearbeitung von tradierten Ressentiments nicht aus. Schüler und (angehende) Lehrkräfte können zu Recht erwarten, dass ihnen das sozialwissenschaftliche Wissen zur Aufklärung über Ressentiments zur Verfügung gestellt wird“, so Bernstein und Müller. „Woher sonst sollen sie den nötigen Raum und die benötigte Zeit beziehen, um sich mit solch herausfordernden Bildungserfahrungen auseinanderzusetzen? Unterricht und Lehramtsausbildung müssen solche Orte werden, wenn gesellschaftliche Freiheiten ausgebaut und vertieft und nicht weiter eingeschränkt werden sollen, zumal sich diese Einschränkungen als Bedrohungen und Übergriffe äußern.“
Im Juni 2021 haben der Zentralrat der Juden in Deutschland, die Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und die Kultusministerkonferenz eine gemeinsame Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus in der Schule verabschiedet. In Ergänzung dazu setzen Müller und Bernstein sich in der aktuellen Diskussion für einen Paradigmenwechsel auf jüdische Perspektiven ein. „Erst wenn die Stimmen von Jüdinnen und Juden ernst genommen werden, können die Verletzungen und Diskriminierungen, deren Auswirkungen auf jüdische Identitäten und auf die Gesellschaft verändert werden“, so Bernstein, die bei ihren Studien auch die Erfahrungen der Betroffenen miteinbezieht.
Beide Forschende sind sich bewusst, dass „die Schule und der Unterricht nicht der Lösung gesellschaftlicher Probleme dienen, die die Mehrheitsgesellschaft seit Jahrtausenden nicht lösen kann“. Es gebe keine Garantie für das Gelingen von Bildung gegen Antisemitismus, stellt Müller klar, schließlich gebe es auch einen ,gebildeten‘ Antisemitismus. „Aber strukturelle Maßnahmen wie die curriculare Absicherung sowohl in der Lehramtsausbildung als auch in den schulischen Curricula können eine Bildung ermöglichen, die nachhaltig die vergangenen und aktuellen Formen von Antisemitismus erkennen, benennen und problematisieren kann.“