Es sind erschreckende Zahlen, die Thomas Goger, Leitender Oberstaatsanwalt und stellvertretender Leiter der Zentralstelle Cybercrime Bayern, nennt: Seit 2020 verzeichnet die Zentralstelle zur Bekämpfung von Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch im Internet einen exponentiellen Anstieg kinderpornografischen Materials von insgesamt über 350 Prozent. Eine Trendwende ist nicht in Sicht. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen wird deutlich, dass der “End Child Sex Abuse Day” der Vereinten Nationen am 18. November zwar eine wichtige Initiative ist, um das Bewusstsein für sexuelle Gewalt gegen Kinder zu schärfen. Doch ohne das Engagement der EU, die in den kommenden Wochen einen Gesetzesentwurf zur Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern auf den Weg bringen soll, wird die Zahl der Missbrauchsopfer weiter steigen.
Hinter jeder kinderpornografischen Darstellung verbirgt sich unfassbares Leid. Häufig berichten Ermittler von Minderjährigen – manchmal sogar Babys oder Kleinkindern – deren Schreien und Weinen in den Videos zu hören ist. Besonders erschreckend: Der Missbrauch wird von den Tätern anschließend auch noch medial vermarktet“. Nach Angaben der IWF (Internet Watch Foundation) machen selbst erstellte Bilder oder Videos inzwischen fast drei Viertel aller gemeldeten Inhalte aus, die Minderjährige sexualisieren. Eine einfache Google-News-Suche zeigt, dass in Deutschland allein im Zeitraum Oktober 2023 in rund 1.500 Artikeln über Hausdurchsuchungen, Verdachtsfälle oder Gerichtsurteile im Zusammenhang mit Kinderpornografie berichtet wurde. Hier nur einige Beispiele:
- Der Prozess um den Besitz von mehr als 160.000 Dateien mit kinderpornografischem Inhalt in Hamburg. Laut Anklage zeigen die Bilder und Videos zum Teil schwerste Missbrauchs- und Gewalttaten an Kindern, darunter auch Kleinkinder und Babys. Allein die Videos sollen eine Gesamtspieldauer von mehr als 15 Tagen haben.
- Bei gezielten Razzien in Hessen wurden insgesamt 96 Smartphones, 65 Computer und Laptops, 85 USB-Sticks sowie 172 CDs und DVDs sichergestellt.
- In Schwaben durchsuchte die Polizei zahlreiche Wohnungen wegen des Verdachts der Verbreitung kinder- und jugendpornografischen Materials. Dabei wurden 74 Datenträger beschlagnahmt. In den meisten Fällen geht es laut Polizei darum, dass die Beschuldigten Missbrauchsfotos oder -videos in sozialen Netzwerken, Clouds oder Messenger-Diensten verbreitet haben sollen.
- Vor dem Landgericht Hamburg muss sich ein 23-Jähriger verantworten. Er soll in Internetforen behauptet haben, ein lesbisches Mädchen namens Zoey zu sein. Anschließend forderte er seine minderjährigen Opfer auf, ihm Nacktbilder zu schicken. 193 Bild- und Videodateien hatte der Täter von den Mädchen erhalten. In der Wohnung des Mannes fanden die Ermittler 4800 kinderpornografische Dateien.
Die Zentralstelle Cybercrime Bayern (ZCB) wurde vor knapp neun Jahren unter anderem zur Aufdeckung kinderpornografischer Straftaten eingerichtet. Thomas Goger, Leitender Oberstaatsanwalt und stellvertretender Leiter der ZCB, schildert seine Erfahrungen und bewertet den EU-Gesetzesvorschlag zur Bekämpfung der Kinderpornografie.
Herr Goger, steigen Ihrer Erfahrung nach die Fallzahlen von Kinderpornografie im Internet tatsächlich seit Jahren exponentiell an?
Leider ja. Während beim bayerischen Zentrum zur Bekämpfung von Kinderpornografie und sexuellem Missbrauch im Internet im Jahr 2020 noch 1.122 Verfahren gegen bekannte Täter geführt wurden, waren es 2021 bereits 3.236 Verfahren und 2022 gar 5.092 Verfahren. Eine Trendwende ist leider auch in diesem Jahr nicht erkennbar.
Die IT-Forensiker des ZCB nutzen für ihre Ermittlung schon heute technische Tools. Mit welchem Resultat?
Technologien, die landläufig als „KI“ bezeichnet werden, spielen an vielen Stellen unserer Ermittlungen eine Rolle. So bieten zahlreiche Tools zum Beispiel die Möglichkeit, automatisiert in großen gesicherten Datenbeständen auch nach bislang unbekannten kinderpornografischen Inhalten zu suchen. Diese Tools unterstützen die Ermittlungen, den menschlichen Auswerter können sie am Ende des Tages aber noch nicht ersetzen.
Der EU-Gesetzentwurf zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern, über den die Mitgliedsstaaten zeitnah abstimmen sollen, wird vor allem von Datenschützern massiv als “Chatkontrolle” kritisiert. Stellt sich ihrer Meinung nach die Frage „Kinderschutz oder Datenschutz“ überhaupt?
Ein hohes Datenschutz-Niveau ist in unserer Gesellschaft, in der das Internet und die Digitalisierung alle Lebensbereiche erfasst haben, unabdingbar. Wir sind individuell wie auch als Gesellschaft auf sichere Kommunikationswege und wirksame Verschlüsselung angewiesen. Allerdings ist auch der Datenschutz kein, wie wir Juristen sagen, ein “abwägungsresistentes” Grundrecht. Er gilt nicht absolut und muss mit anderen Grundrechten und Schutzpflichten des Staates in Einklang gebracht werden. Es wäre schon viel gewonnen, wenn in der öffentlichen Debatte Belange des Kinderschutzes mindestens auf die gleiche Stufe gestellt werden wie der Datenschutz.
Wie stehen Sie zur geplanten EU-Verordnung „Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“, über die demnächst abgestimmt werden soll?
In das konkrete Gesetzgebungsvorhaben will ich mich nicht einmischen. Das ist Sache der Politik. Allerdings ist für eine wirksame Strafverfolgung unabdingbar, dass es den Online-Diensten auch künftig möglich ist – auch in Zeiten von Ende-zu-Ende-Verschlüsselung – ihre Plattformen frei von kinderpornografischem Material zu halten und dieses Material an die Strafverfolgungsbehörden zu melden. Hier gibt es vernünftige und abgewogene technische Möglichkeiten (etwa das sog. Client-Side-Scanning), die relativ leicht implementiert werden können und die Verschlüsselung keineswegs aushebeln. Wenn solche Möglichkeiten nicht geschaffen werden, werden wir beobachten, dass die Fallzahlen im Bereich von Kinderpornografie gravierend zurückgehen. Nicht etwa, weil weniger Taten begangen werden, sondern weil wir diese Taten schlicht nicht mehr sehen. Die hohe Anzahl der Verfahren wegen des Umgangs mit Kinderpornografie beruht derzeit auf Meldungen aus der Online-Wirtschaft und nicht etwa auf Darknet-Ermittlungen. Es ist deshalb schlicht falsch, wenn behauptet wird, die Verordnung sei schon deshalb überflüssig, weil Kinderpornografie im Clearnet keine Rolle spiele.
EU-Kommission muss weiteres Leid verhindern
Die Notwendigkeit technischer Tools zur konsistenten Erkennung von CSAM (Child Sexual Abuse Material) wird auch in einem Bericht der EU CSA Legislation Advocacy Group (ECLAG) unterstrichen: “Die Wirksamkeit der Erkennung zeigt sich darin, dass die Unterbrechung der Erkennung direkt mit sinkenden Statistiken über die Gesamtzahl der gemeldeten und entfernten CSAM korreliert. Dies wurde während der Gesetzeslücke im Jahr 2021 sichtbar, als Facebook gezwungen war, die Erkennung in der EU für zehn Monate auszusetzen, was zu einem Rückgang der gefundenen und entfernten CSAM um 58 Prozent führte.”
Europa hat sich zum “Hot Spot” für Kinderpornografie entwickelt. Im Jahr 2020 wurden 86 Prozent des von der IWF entdeckten Materials über sexuellen Kindesmissbrauch im Internet in Europa gehostet, weil die Täter hier einfach “sehr gute” technische und rechtliche Bedingungen vorfinden. Sprich: unentdeckt bleiben.
Trotz exponentiell steigender Fallzahlen, immer jüngerer Opfer, zunehmender Brutalität und der offensichtlichen Notwendigkeit technischer Hilfsmittel zur Aufdeckung von CSAM wird der Gesetzesentwurf zur Prävention und Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern seit Monaten in Politik und Medien kontrovers diskutiert: Die Kommission um Initiatorin Ylva Johansson setzt sich für den Gesetzesentwurf ein, der Onlineportale und Diensteanbieter wie WhatsApp dazu verpflichten soll, kinderpornografische Inhalte und Cyber-Grooming im Internet mithilfe modernster KI-Technologien zu verhindern, aufzudecken und/oder zu melden. Denn nur durch eine einheitliche EU-Regelung können Taten und Täter ans Licht gebracht und Kinder vor grausamen Übergriffen geschützt werden. Demgegenüber stehen Politiker und Aktivisten, die die so genannte “Chatkontrolle“ verhindern wollen. Sie befürchten eine anlasslose “Massenüberwachung”, die ohnehin nicht das gewünschte Ergebnis bringe.
End Child Sex Abuse Day am 18. November
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hatte 2015 den 18. November zum Welttag gegen die sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen erklärt, um das Bewusstsein für alle Formen sexueller Gewalt und schwerwiegender Verletzungen der Rechte von Kindern zu schärfen. In diesem Jahr steht der ”UN End Child Sex Abuse Day” besonders im Fokus. Er fällt nämlich in die letzte Phase des Gesetzgebungsprozesses der von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Verordnung zur “Bekämpfung des sexuellen Missbrauchs von Kindern“.
Die Abstimmung der EU-Minister sollte eigentlich ein einstimmiges “Ja” zum Gesetzesentwurf ergeben. Denn laut EU-Grundrechtecharta haben Kinder “Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge, die für ihr Wohlergehen notwendig sind. Ihre Meinung ist in Angelegenheiten, die sie betreffen, zu berücksichtigen und das Wohl des Kindes ist bei allen Maßnahmen, die Kinder betreffen, ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist”.